In der ersten Jahreshälfte wird der a cappella Chor Zürich das Programm «The Golden Age» weiterführen. Im Zentrum stehen Werke der englischen Renaissance, unter anderem von William Byrd, Thomas Tallis und Henry Purcell. Ihnen werden Stücke von zeitgenössischen Komponisten wie Arvo Pärt und Ola Gjeilo gegenübergestellt. Ihre Klangmalereien sind von der Renaissancemusik inspiriert und entfalten sich wunderbar in den Kirchenräumen.
In der zweiten Jahreshälfte begibt sich der a cappella Chor Zürich mit dem Programm «musica caelestis» auf neues Terrain: Zusammen mit KLANGZEIT – so nennt der Klangkünstler Pudi Lehmann sein musikalisches Programm – werden wir mit Räumen und Klängen experimentieren.
musica caelestis – der a cappella Chor Zürich begegnet KLANGZEIT
Solange es Menschen gibt, scheint es Musik zu geben: Man findet sie zu allen Zeiten, durch alle Gesellschaftsschichten, in allen Kulturen. Es muss ein universelles Bedürfnis des Menschen sein, seinen Emotionen mit Klang und Rhythmus Ausdruck zu verleihen. Mit Trommeln, Gesang und Tanz begleitet man rituelle Handlungen, man beschwört Geister, besingt Gottheiten, versetzt sich in Trance. Unabhängig von religiösen Überzeugungen ermöglicht Musik ein Innehalten, Erquickung, Trost.
Seit Pythagoras’ Entdeckung der Zahlenverhältnisse zwischen den Intervallen ist Musik in der westlich-abendländischen Kultur Sinnbild für die Einbindung des Menschen in den Kosmos geworden: In der Musik wird die kosmische Ordnung manifest, sie widerspiegelt die Bewegungen des Universums ebenso wie die Bewegungen der menschlichen Seele. Auch in Schöpfungsmythen anderer Kulturkreise spielt Musik eine wesentliche Rolle, so beispielsweise in altindischen Überlieferungen, wo die Welt erst durch den Klang entsteht.
Der moderne Mensch mag solchen Konzepten skeptisch gegenüberstehen, sich der faszinierenden Wirkung zu entziehen, gelingt ihm freilich kaum. Musik scheint ausserhalb von Raum und Zeit zu stehen, in einer transzendenten Wirklichkeit. Hildegard von Bingen spricht von musica caelestis – einer himmlischen Musik, die Schöpfer und Schöpfung miteinander vereint.
Im Mittelalter unterschied man zwischen der rein vokalen musica humana und der musica instrumentalis. Unser Programm führt diese beiden Klangkörper, die Stimme und das Instrument, zusammen. Der a cappella Chor Zürich beruft sich dabei auf seine namensgebende Tradition. Als musica humana singen wir Stücke aus dem Hochmittelalter: Von der grossen deutschen Äbtissin und Mystikerin Hildegard von Bingen, die ihre Loblieder als «Symphonische Harmonie der himmlischen Offenbarungen» versteht. Hildegards Musikauffassung knüpft an die pythagoreische an: Die Seele ist Teil der himmmlischen Sinfonie, in der Musik erscheinen Mensch und Universum in einer harmonischen Gestimmtheit.
Neben Hildegards für Frauen komponierten Gesängen, die sich durch einen ungewöhnlich grossen Tonumfang auszeichnen, stehen gregorianische Männerchoräle. Das Fehlen eines klaren Metrums – der Rhythmus richtet sich nach dem Text – erzeugt in der Akustik der Kirchen und Klöster eine ureigene Kraft und Zeitlosigkeit. Die meditativen einstimmigen Gesänge werden ergänzt mit Stücken zeitgenössischer Komponisten, u.a. Ola Gjeilo und Eric Whitacre. Sie breiten vielstimmige Klangteppiche aus, die das Zusammenwirken von Klang und Raum erfahrbar machen. KLANGZEIT nimmt diese Erfahrungen auf und führt sie weiter. Die Universalität der grundlegendsten Instrumente wie Trommeln, Gong und Klangschalen ermöglicht dem Perkussionisten und Klangvirtuosen Pudi Lehmann die Verbindung zwischen musica humana und musica instrumentalis, zwischen damals und heute, zwischen der eigenen und fremden Kulturen.
Bohdan Shved: Was zeitgenössische Komponisten wie Gjeilo oder Whitacre mit mittelalterlicher Musik verbindet, ist die Art, «räumlich» zu denken. Die Musik ist für den Raum komponiert und mit ihm «gedacht»und dann auch erfahrbar.

Miniatur aus dem Liber Scivias: Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration und diktiert sie ihrem Schreiber.
Die grosse Mystikerin Hildegard von Bingen 1098–1179 ist eine der faszinierendsten Persönlichkeiten des Hochmittelalters. Bereits zu Lebzeiten verehrt, war sie eine Universalgelehrte, ihre Werke befassten sich mit Religion, Medizin, Musik und Kosmologie. Hildegards Leben und Werk sind geprägt von ihren Visionen, die sie als Gabe sieht und «Schau» nennt. In der bildhaften Sprache der Texte wird Hildegards visionäre Gedanken- und Bilderwelt deutlich. Ihr musikalisches Schaffen ist unter dem Namen symphoniae harmoniae celestium revelationum überliefert. Die Sammlung enthält 77 Gesänge in Neumennotation. Ihre Tätigkeit als Komponistin steht in enger Verbindung mit ihrem Leben als Benediktinerin. In Columba aspexit wird der Heilige Maximin verehrt. Zahlreiche Gesänge – so auch O tu, illustrata – zeugen von ihrer grossen Marienverehrung.
Józef Świder (1930–2014) studierte Klavier, Komposition und Musiktheorie an der Musikakademie in Katowice, Polen, wo er später über vierzig Jahre lang eine Professor für Musiktheorie und Komposition an der Musikakademie innehatte. Sein umfangreiches, mehrfach ausgezeichnetes musikalisches Werk umfasst unter anderem über 200 Chorlieder. In seiner Vertonung des Pater noster für vier- bis achtstimmigen gemischten Chor a cappella wird mittels Sprechgesang das wiederholende, rezitierende Element des Betens aufgegriffen.
Der 1935 in Estland geborene Komponist Arvo Pärt gilt als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Komponisten zeitgenössischer Musik. Pärt strebt in seiner fast ausschliesslich religiös motivierten Musik nach einem Ideal der Einfachheit, das die spirituelle Botschaft unterstützt. Er entwickelte seinen eigenen Musikstil, den er «Tintinnabuli» (Klingeln der Glocken) nennt: Einfache Harmonien, meist Dreiklänge und diese überlagernde Tonleitern bestimmen seine rhythmisch bewusst einfach gehaltenen Kompositionen.
Der norwegische Komponist und Pianist Ola Gjeilo (geb. 1978) besuchte ab 2001 die renommierte Juilliard School in New York. Er schreibt vorwiegend für Chor und Orchester sowie Klaviermusik. Seine Musik, die zuweilen an Filmmusik erinnert, weist Einflüsse aus diversen Stilen und Epochen auf.
Auch der amerikanische Komponist und Dirigent Eric Whitacre (geb. 1970) hat an der New Yorker Juillard School studiert. Durch seine Arbeit mit virtuellen Chören, die sich übers Internet begegnen, wurde er weltweit bekannt. Zu den so aufgeführten Stücken zählt auch Lux aurumque, eigentlich ein Weihnachtslied, in dem das Neugeborene von Engeln besungen wird. Ein Kritiker bezeichnete das Stück als «harmonisch, mit ungewöhnlichen Rhythmen und Klangkombinationen in feinem Klanggewebe».
Der Berner Pudi Lehmann ist seit Jahren als freischaffender Musiker in diversen Konzert- und Weiterbildungsprojekten tätig. Durch seine Reisen nach Afrika und Asien beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit Rhythmus und Klang. Dabei entwickelt er eigene Formen, Musik zu vermitteln. Seine Soloprogramme KLANGZEIT mit Gongs, Klangschalen und grossen Kodo-Trommeln, die sich im Grenzbereich von zeitgenössischer E-Musik, sakraler Musik und Worldmusic bewegen, sind die Frucht seines Schaffens. Gemeinsame Projekte mit anderen Künstlern führen immer wieder zu neuen Formen und «Klang-Begegnungen».