«The Golden Age»
The Golden Age – so wird die künstlerische Blütezeit im England des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts genannt. In diese Epoche fallen musikalische Entwicklungen, die in ihrer Dichte und Vielfalt einmalig sind. Dies ist umso erstaunlicher, als es eine Phase der Ungewissheit war: Nach der Lossagung Heinrichs VIII von Rom 1534 begannen blutige konfessionelle Auseinandersetzungen. Mit der Thronbesteigung Elizabeths I 1558 etablierte sich die anglikanische Kirche; die katholischen Riten wurden verboten.
«Englands Goldenes Zeitalter fällt in eine Zeit des Umbruchs. Gerade die entstehende Unsicherheit erzeugte die grösste Schöpfungskraft.» – B. Shved
Die Kirchenmusik blieb von diesen Wirren nicht unbeeinflusst: Wichtigste Neuerung ist die Zurückdrängung des Lateins zugunsten der Landessprache. Die geforderte Textverständlichkeit begünstigte die Heranbildung eines neuen Musikstils, der sich von der Polyphonie hin zu einer syllabischen Form bewegte, deren Hauptmerkmal der gleichzeitige Silbenwechsel in allen Stimmen ist. Eine besondere Stellung nimmt in der musikalischen Entwicklung die Chapel Royal in London ein. Sie war Mittelpunkt des Musiklebens und verfügte über einen der bedeutendsten Chöre des damaligen Europas. Zu ihren Mitgliedern gehörte fast jeder Komponist von Rang.
Die Meisterschaft des Chores ermöglichte es den Musikern, anspruchsvolle Stücke für grosse Kathedralen zu komponieren. So entstanden doppelchörige Anthems, bei denen, bedingt durch die besondere Aufstellung des Chors, eine spezielle Aufführungspraxis entwickelt wurde, bei der sich die im Chorgestühl gegenüberstehenden Sänger in den Versen abwechseln.
Die Stückauswahl zeichnet die Veränderungen nach: Im Zentrum steht die um 1590 entstandene Mass for four voices von William Byrd (1543?–1623). Byrd, 1572 zum «Gentleman of the Chapel» ernannt, war katholisch, doch auch er komponierte für den anglikanischen Gottesdienst. Sein Schaffen umfasst an die 500 Werke, was ihm den Titel des «Father of Musicke» eintrug. In der Tat prägte er das englische Musikleben in allen damals wesentlichen Genres.
Die Messe steht ganz in der Tradition der katholischen Kirchenmusik – im post-reformatorischen England kein ungefährliches Unterfangen. Schon zu Lebzeiten berühmt, stand Byrd trotz seines strengen Katholizismus in Königin Elizabeths Gunst, was ihm grosse Privilegien einbrachte: So erhielt er zusammen mit seinem Freund und Lehrer Tallis das exklusive Recht zum Notendruck.
Byrds Messe wird mit Werken umrahmt, die das Goldene Zeitalter in seiner Fülle und Widersprüchlichkeit ausleuchten: Zu hören sein werden Werke von Komponisten, die an der Chapel Royal tätig waren: Thomas Tallis, William Byrd, Thomas Tomkins, John Blow, Henry Purcell. In der Gegenüberstellung von ganz in der polyphonen Tradition stehenden lateinischen Texten mit den neu entstehenden, an Kirchgemeindegesänge erinnernden englischen Textvertonungen – den Anthems – zeigt sich, wie virtuos sich die Komponisten damals in beiden Bereichen bewegten. Es wird ein Bogen gespannt, bei dem sich gegensätzliche Einflüsse vereinen: liedhafte Schlichtheit und kühne Harmonik, polyphones Ineinanderfliessen und syllabische Nachdrücklichkeit, kontrapunktischer stile antico und monodischer stile moderno.
«Es ist unglaublich, wie zwei Kompositionen einer Zeit und einer Feder entstammen, während man verschiedene Epochen und Urheber vermutet.» – B. Shved
Thomas Tallis (1505-1585) wurde 1543 zum «Gentleman of the Chapel Royal» ernannt. Sein Schaffen fällt in die Zeit vor und nach der Reformation, sodass sein Werk neben lateinischen Messen und Motetten auch Anthems für den anglikanischen Gottesdienst umfasst. Bei Tallis, selbst katholisch, wird besonders sichtbar, wie er sein Können in den Dienst seiner Auftraggeber stellte und in beiden Traditionen zu komponieren verstand und damit ein Werk von einer unglaublichen Verschiedenheit und Spannkraft schuf.
Thomas Tomkins (1572-1656) war ein Schüler von William Byrd. Obwohl er eine Vielzahl von Anthems komponierte, fühlte er sich der alten römischen Tradition verpflichtet. In seinem Schaffen äusserst konservativ, ignorierte er jegliche Tendenzen der Monodie, sowie der aufkommenden Chromatik. Als die Puritaner 1646 ein Verbot der Polyphonie in der Kirchenmusik durchsetzen wollten, sah er sich gezwungen, sich als Komponist weitgehend zurückzuziehen.
John Blow (1649-1708) war bereits als Chorknabe an der Chapel Royal. Damals war der monodische Stil schon so weit fortgeschritten, dass die Anthems zunehmend mehrteiligen Kantaten glichen, die mit Instrumentalbegleitung und Generalbass aufgeführt wurden. Dennoch liessen sich die englischen Komponisten des Frühbarock auch weiterhin vom alten polyphonen Stil inspirieren. Salvator mundi veranschaulicht, wie an römische Traditionen angeknüpft und diese in ihrer Expressivität und harmonischen Anordnung weiterentwickelt wurden. John Blows Schaffen umfasst hauptsächlich geistliche Musik. Sein bekanntestes Werk ist allerdings ein weltliches: Venus and Adonis gilt erste englische Oper.
Blows Schüler Henry Purcell (1659? -1695) galt bereits zu Lebzeiten als der bedeutendste englische Komponist, was ihm den Ehrentitel Orpheus britannicus eintrug. In seinem kurzen Leben schuf er neben geistlicher Musik auch Opern und vertonte zahlreiche literarische Stoffe, darunter von Shakespeare. In seiner Musik verschmelzen alle Einflüsse zu einem eigenen Stil, der sich durch liedhafte Melodik und chromatische, kühne Harmonik auszeichnet. Das achtstimmige Anthem Hear my Prayer, O Lord nimmt die Tradition des abwechselnden Versegesangs zwischen sich gegenüberstehenden Stimmen wieder auf.